IFAMD Marktbemerkung 2019.06

Warum Spieltheorie im Einkauf noch lange als innovativ gelten wird

Der weltweit angesehene Spieltheoretiker und Träger des Leibniz-Preises Professor Axel Ockenfels gab 2018 ein Interview in brandeins \ McK Wissen über die Rolle von Beschaffungsauktionen im Industriegütermarketing[1]. Prof. Ockenfels, der mit Hilfe der experimentellen Spieltheorie seinerzeit sehr spannende Erkenntnisse zu C2C Auktionen (z.B. eBay) beigetragen hat, reflektiert in diesem Interview Einschätzungen zur Anwendbarkeit von Auktionen in der Industrie, die an die Anfangszeit der Methode „Spieltheorie im Einkauf“ vor 20 Jahren erinnern. Nachdem wir im Rahmen unseres Expertenforums „Spieltheorie im Einkauf“ mit namhaften Vertretern der deutschsprachigen Industrie auf das Interview aufmerksam gemacht wurden, kommen wir nicht umhin, dieses Interview zu kommentieren.

[1] www.brandeins.de/corporate-publishing/mck-wissen/mck-wissen-pricing/wer-bietet-weniger

Die Eingangsbemerkung, es sei „weniger bekannt, dass Online-Auktionen auch in Unternehmenskreisen mittlerweile einen hohen Stellenwert genießen“, kann nur als an die breite Leserschaft von brandeins gerichtet verstanden werden. Das gewählte Beispiel „Ein Automobilzulieferer benötigt beispielsweise eine Million Schrauben“ erinnert uns an den alten Slogan „Nur Commodities sind auktionierbar – und die Erde ist eine Scheibe“. Weiter unten konstatiert Prof. Ockenfels: „Am besten eignen sich standardisierte Güter wie Schrauben, Reifen oder Papier – je erklärungsbedürftiger ein Produkt, desto komplizierter wird auch die Auktion“ und weiter, es „sollten dem geplanten Deal einfache Verträge zugrunde liegen“. Zusammen mit der Aussage „Die Online-Beschaffungsauktionen sparen dem Einkäufer Zeit und Geld, weil er nicht mit jedem Supplier einzeln verhandeln muss“ wird hier der Kenntnisstand der 90er Jahre im Industriegütermarketing offenbar.

Wir wissen längst, dass es gerade erst der höhere Aufwand der Auktionsvorbereitung im komplexen Markt- und Produktumfeld ist, der durch das in diesem – durch die Vorbereitung oft erst geschaffenen oder geschickt in Richtung Wettbewerb manipulierten – Markt verbesserste  Auktionsergebnis bei weitem überkompensiert wird. Das Auktionsergebnis einer Commodity wie Schrauben hingegen kann den professionellen Industrieeinkäufer in der Regel nicht hinter dem Ofen hervorlocken, denn für Commodities sind Markpreise in der Regel transparent und leicht zugänglich. Hier, bei Commodities, von einem „enormen Sparpotenzial“ zu sprechen, und sogar explizit auszusagen, mit „Auktionen können Firmen ihre Einkaufskosten nicht selten um 20 bis 40 Prozent drücken“, ist aus unserer Sicht und Erfahrung in sehr vielen Industriegütermärkten sehr mutig – um es vornehm auszudrücken. Darauf, dass gerade Papier und vermutlich auch Reifen sich aufgrund historisch kollusiv agierender Marktteilnehmer oft ganz und gar nicht für Auktionen oder zumindest ganz und gar nicht als didaktisches Beispiel dafür eignen, möchten wir hier gar nicht weiter eingehen.

Um 20 Jahre zurückversetzt und insbesondere um extrem wertvollen praktischen Erkenntnisgewinn im Kontext des öffentlichen Vergaberechts zurückgeworfen werden wir dann in der Beschreibung einer „Scoring Auction“. Das sogenannte „Wirtschaftlichste Angebot“ wird in öffentlichen Vergaben in der Tat meist mit einer Punktematrix ermittelt, in der auch der Preis eine Punktebewertung erhält und am Ende die Gesamtpunktzahl entscheidet. Der beschriebene zweistufige Prozess, in dem erst der Preis und dann die anderen Punkte ermittelt werden, ist allerdings extrem diskutabel – in der Praxis wird meist erst die Bewertungsmatrix mit allen anderen Punkten erstellt und am Ende über den Preis gesprochen. Dabei verhält es sich mit diesen Punktematrizen regelmäßig so, dass die Gewichtung zwischen den Kriterien systematisch verzerrend wirkt weil es in der Praxis unmöglich ist, diese Gewichtung in ihrem Effekt auf das Preis-Leistungsverhältnis hin so zu trimmen, dass die tatsächlichen Präferenzen der Entscheidungsträger abgebildet werden. Deshalb werden in der Praxis der „Spieltheorie im Einkauf“ monetarisierte Bonussysteme angewandt, d.h. jedes einzelne Kriterium wird in Form eines Preisauf- oder -abschlages bewertet und so auf seinen Effekt auf den Preis hin justiert. Damit erhält man automatisch eine natürliche Gewichtung zwischen den Kriterien. Diese für manche vielleicht akademisch klingende, in der Praxis aber extrem wichtige Diskussion führt so weit, dass wir inzwischen von unseren vom öffentlichen Vergaberecht betroffenen

Kunden und deren Rechtsabteilungen wissen, dass auch ein monetarisiertes Bonussystem mit dem Grundsatz des wirtschaftlichsten Angebots vereinbar ist. In der Welt öffentlicher Vergaben ist dies eine Revolution – die hier unbedingt Erwähnung finden muss.

Das ganze Thema „Entscheidungsverbindlichkeit einer Auktion“, von dem wir aus der Praxis wissen, wie erfolgskritisch und extrem relevant für das Auktionsergebnis es ist, wird im Interview mit Prof. Ockenfels zwar in einer Antwort kurz gestreift. Allerdings greift der Hinweis, es „sollten die Regeln, nach denen der Gewinner ausgewählt wird, prinzipiell vor der Auktion transparent und unmissverständlich offengelegt werden“ viel zu kurz. Die Einschätzung, bei mangelnder Entscheidungsverbindlichkeit würden die Bieter „grundsätzlich nicht (wissen), nach welchen Kriterien das ausschreibende Unternehmen letztlich auswählt. Deshalb stellen sie ihr Gesamtpaket möglichst attraktiv dar“ entspricht ganz und gar nicht den Beobachtungen, die wir mit der Methode Spieltheorie im Einkauf immer wieder machen: Ohne Entscheidungsverbindlichkeit, geschweige denn, wenn Entscheidungskriterien nicht offen gelegt werden, halten Lieferanten vielmehr sogar eine „Risikomarge“ vor, anstatt wie hier angenommen wird umso attraktiver anzubieten. Diese Annahme in der gelebten Wirtschaftspraxis und gerne auch im Labor zu prüfen scheint uns angebracht.

Die dann folgende Diskussion des Winner’s Curse ist richtig. Weit über 20 Jahre steht diese Erkenntnis bereits in allen Spieltheorie-Büchern. Bis heute allerdings wird regelmäßig, auch hier wieder, verkannt, dass die einzige Auktionsform, die die Gefahr des Winner’s Curse wirklich reduziert, diejenige Sonderform der Englischen Ticker-Auktion (bzw. Clock-Auction) ist, bei der die Zahl der verbleibenden Anbieter heruntergezählt wird. Denn in keiner anderen in der Industriepraxis relevanten Auktionsform bekommt ein Bieter die durchaus auch hier von Prof. Ockenfels angesprochene Information, ob und wie viele andere Bieter bereits ausgestiegen sind. Insbesondere ist dies bei keiner der Dynamischen Englischen Auktionsformen, die man von den einschlägigen Auktionsplattformen allenthalben kennt, der Fall. Dies muss, wenn über den Winner’s Curse im Kontext der industriellen Auktionspraxis gesprochen wird, Erwähnung finden.

Ganz ähnlich verhält es sich mit der Diskussion der Code-Biddings. Das skizzierte Beispiel hat tatsächlich in einer US-amerikanischen Mobilfunklizenzauktion in den 1990er-Jahren stattgefunden und findet sich seither in allen Spieltheorie-Büchern. Auch hierzu ist die Englische Tickerauktion (auch bekannt als Japanische Auktion) allerdings die einzige Auktionsform, zumindest unter den Englischen Auktionen, die das Signaling, wie es auch genannt wird, verhindert. Nicht vollständig verhindert wird es von jedweder Dynamischen Englischen Auktion, auch wenn diese nur Ranginformationen oder Ampelfarben anstelle der Preise zwischen den Bietern teilt. Solange der Bieter mit seinem aktiven Gebot die Dynamik der Auktion steuert, sendet er immer genau damit auch ein Signal an die Wettbewerber, das über die reine „ich-gehe-noch-mit“-Information hinaus geht. Wenn sich Prof. Ockenfels mit seinem Kölner Laboratorium für Wirtschaftsforschung dem Feld der B2B Industriegüter-Auktionen widmet, würde es uns sehr freuen, wenn z.B. dieser Erkenntnis auf den Grund gegangen wird.

Zu guter Letzt wird im Interview noch das Zusammenspiel von Kooperation und Wettbewerb angesprochen. Hier werden leider verschiedene Ebenen vermischt. So ist im Kontext von B2B Preisverhandlungen zu differenzieren zwischen der (horizontalen) Kooperation unter Wettbewerbern – man spricht auch von kollusivem Verhalten – und der (vertikalen) Kooperation zwischen Lieferant und Kunde. Welcher Kuchen soll im „ersten Schritt gebacken“ werden: derjenige, den sich ein Lieferant mit dem Kunden teilt, oder derjenige, den der Kunde unter den Lieferanten aufteilt? Definiert wird der Kuchen jedenfalls ausschließlich zwischen den Indifferenzpreisen in der vertikalen Richtung. Eine horizontale Kollusion als Kooperation zu bezeichnen mag opportun sein, führt aber nicht wirklich zu einem größeren Kuchen, sondern lediglich zu einem größeren Stück vom Kuchen für erfolgreich kollusiv agierende Lieferanten. Einen gemeinsamen Kuchen aller Parteien, also des Kunden und aller, teilweise noch auszuschließenden Lieferanten, erst in einer gleichzeitig vertikalen und horizontalen Kooperation gemeinsam zu vergrößern, bevor es dann erst im zweiten Schritt zum Wettbewerb kommt, funktioniert in der Praxis jedenfalls nicht: Eines unserer aktuellen Steckenpferde nach 20 Jahren Erfahrung mit der Anwendung von Spieltheorie im industriellen Industriegütermarketing ist die Erkenntnis, dass man in der vertikalen Beziehung zwischen Kunde und jedem einzelnen Lieferanten nur entweder die Wettbewerbskarte spielen oder auf eine Kooperation setzen kann, die dann auch das Ziel haben sollte (das übrigens auch von Prof. Ockenfels abschließend angesprochen wird) sich in der Mitte zu treffen. Beides zu kombinieren aber konterkariert langfristige Beziehungen und zerstört Vertrauensverhältnisse.

Die Welt der vertikalen Kooperationen – d.h. langfristige strategische Partnerschaften – spieltheoretisch zu betrachten und dabei die kooperative Spieltheorie anzuwenden, also bewusst jenseits der Auktionstheorie, ist die Richtung, in die sich die Spieltheorie im Einkauf methodisch derzeit weiterentwickelt. Wenn Herr Prof. Ockenfels dazu einen experimentellen Beitrag leisten kann, dürfen wir alle sehr gespannt darauf sein.

Dr. Gregor Berz
IFAMD GmbH